Dienstag, 3. Januar 2023

Gesunder Menschenverstand

Es gibt ja immer wieder Situationen, wo die Floskel „der gesunde Menschenverstand“ fällt. Schon zu Silvester konnte man ja wieder ausgiebig in den Medien verfolgen, was ganz verschiedene Menschen darunter verstehen.

Im Rahmen des Studiums soll ich eine Aufgabe lösen, wo ich denke: „Diese Aufgabe ist so dermaßen falsch und unüberlegt, wenn man die tatsächlich so machen würde, dann hätte man schnell ein ganz großes Problem!“. Als ich dann in der Whatsapp-Gruppe darauf hingewiesen habe, kam als Antwort etwas mit „Gesunder Menschenverstand“. Da war ich gerade auf Hunderunde – und eigentlich war es dann eine gute Zeit, um darüber zu philosophieren, was denn eigentlich so ein „gesunder Menschenverstand“ ist – und warum man diese Floskel verwendet.

Ich bin 55 Jahre alt. Über 20 davon habe ich mit einem behinderten Kind verbracht und viel erlebt. Ein paar Beispiele: Vor vielen Jahren waren wir auf einem Feuerwehrzeltlager in Delmenhorst. Bezeichnend war, dass sich viele Betreuer einfach unglaublich betrunken haben und zum Teil völlig besoffen unter ihren Feldbetten im Matsch gepennt haben. Diese Menschen hatten eine pädagogische Verantwortung für ihnen anvertraute Jugendliche – und hätte man ihnen etwas von „gesunder Menschenverstand sagt, ihr sollt nüchtern bleiben!“ erzählt, wären sie maßlos sauer geworden und hätten nicht eingesehen, das sie einen „ungesunden Menschenverstand“ haben.

Dann waren wir auf einer Wanderung und der Gruppenleiter mit pädagogischer Verantwortung wollte einem Mädchen aus der Gruppe welche runterhauen. Auch wäre unter „gesunder Menschenverstand macht so etwas nicht“ gefallen – hätte ihn aber nicht interessiert, denn in der Feuerwehrhierarchie war er jemand.

„Gesunder Menschenverstand“ hätte nicht dazu geführt, dass sich der Leiter des oldenburger Jugendamtes bei der damaligen Leiterin der Jugendfreizeitstätte Ofenerdiek darüber beschwert, warum „ausgerechnet ein behindertes Kind bei den Ferienpassangeboten mitmachen muss?! Er hätte einen Anruf von einer wütenden Mutter bekommen“. Das behinderte Kind war Nick, ich habe das Ferienpassangebot geleitet und alle Kinder hatten kein Problem. Nur eine Mutter.

„Gesunder Menschenverstand“ hätte nicht dazu geführt, das Nick von Lehrerinnen der Förderschule für geistige Entwicklung für Dinge gemobbt und fertig gemacht wurde, für die er aufgrund seiner Behinderung einfach nichts konnte. Bei gesundem Menschenverstand hätten die Lehrerinnen gewusst, dass es so ist, insbesondere bei ihrer Schulform. De facto musste ihnen aber erst einmal eine Kinder- und Jugendpsychologin erklären, dass es so nicht funktioniert und sie einen Schüler für etwas bestrafen, dass er einfach auch körperlichen Gründen nicht kann.

Gesunder Menschenverstand würde allen Hundehaltern klar machen, dass Hunde Tiere sind und wenn, von der menschlichen Sprache nur einen Bruchteil verstehen. Aber komischer Weise denken die allermeisten Menschen, Hunde könnten automatisch unsere Sprache verstehen.

Der „gesunde Menschenverstand“ hat letztes Jahr viele Leute Pilze suchen lassen, die überhaupt keine Ahnung hatten und zu diversen Vergiftungen geführt, bei denen dann am Schluss auch mal eine Lebentransplantation benötigt wurde, aber kein Spenderorgan zu bekommen war. „Gesunder Menschenverstand“ sorgt dafür, dass Menschen ihren Kindern (und sich selbst) Chlorbleiche verabreichen und sich dafür auch noch in den sozialen Medien feiern lassen oder daraus ein Geschäftsmodell machen. Es sorgt dafür, dass sie an Zuckerkügelchen glauben, deren Wirkung nicht belegt sind und Verbände für ihre biologisch-dynamische Wirtschaftsweise feiern, die mit Schwermetallen düngen und Tiere ohne mit der Wimper zu zucken Schmerzen erleiden lassen würden.

Was würde „gesunder Menschenverstand“ noch alles anders machen? Haben Raucher „gesunden Menschenverstand“? Leute, die ihren Müll im Wald entsorgen – haben die „gesunden Menschenverstand“? Haben Tierschützer, die auf Biegen und Brechen pro Wolf sind und übersehen, dass wir eine massive Überpopulation von den Tieren haben „gesunden Menschenverstand“? Leute, die in Ställe einbrechen? Militante Veganer, die einfach nur fordern, dass man keine Tiere mehr töten darf? Wie steht es da mit „gesundem Menschenverstand“? Oder Menschen, die Zoos grundsätzlich total scheiße finden – aber geflissentlich übersehen, dass manche Tierarten nur noch deshalb existieren, weil es Zoos gibt und ausgeklügelte Zuchtprogramme den Erhalt bedrohter Tierarten und eine Auswilderung ermöglichen - wie ist es da mit „gesundem Menschenverstand“?

Jetzt zu Silvester haben Pfleger und Ärzte aus Notaufnahmen berichtet. Von einem Kind, vor dessen Gesicht ein Böller explodiert ist, der gezielt von einem Balkon geworfen wurde. Das Kind hat faktisch eine Kriegsverletzung, das Gesicht zerstört etc. pp., von dem jungen Mann, der einen Böller in der Hand hatte, der ihm in der Hand explodiert ist und ihm ebenfalls das Gesicht zerstört hat – so schlimm, dass der Notarzt ihn nicht einmal problemlos intubieren konnte. Ich habe von Menschen gelesen, denen Augen entfernt wurden, die Arme verloren haben etc., von Eltern, die ihre 3 Jährigen Kinder haben Böller anzünden lassen, oder dem 6jährigen, der das durfte und in der Notaufnahme gelandet ist – alles „gesunder Menschenverstand“?

Was also bedeutet diese Floskel? Wozu dient sie?

Sie ist bequem. Denn wer sie benutzt, möchte sie meistens nicht weiter Gedanken darüber machen, dass nicht jeder so denkt wie er selbst, nicht jeder die gleichen Erfahrungen, das gleiche Grundwissen hat.

Sie erhöht einen selbst. Wenn ich sage: „Also der gesunde Menschenverstand sagt ja schon...“ - dann fühle ich mich klüger als der, dem ich so eine Antwort gebe. Ich bin moralisch besser gestellt, weil ich etwas weiß oder auf eine Art und Weise handeln würde, wie ein anderer Mensch eben nicht handeln würde oder könnte – aus welchen Gründen auch immer.

Sie ist unbedacht. Denn wenn ich sage: „Also der GESUNDE Menschenverstand sagt ja...“ impliziere ich, dass Menschen, die anders denken und handeln, einen UNGESUNDEN Menschenverstand haben. Also dass sie krank sind. Damit stemple ich sie lieber ab, werte sie im gleichen Augenblick damit auch ab, denn ICH habe ja den GESUNDEN Verstand und sie einen KRANKEN. Ich stigmatisieren so auch ganz problemlos Menschen mit psychischen und physischen Krankheiten, kein Ding. Die haben ja ohnehin noch nicht genügend Probleme im Leben, da kann ich die auch gleich noch eine Runde abwerten. (Sarkasmus; ich hab´ ja selbst meine Grunderkrankung)

Im Endeffekt bleibt es einfach nur eine faule Begründung – und das eben nicht nur faul im Sinne „ic habe keine Lust mir mehr Gedanken zu machen“ sondern eben auch „gammelig faul“ im Sinne von „da läuft grad etwas schief und es ist mir eigentlich komplett egal, ob andere Menschen dadurch vielleicht in irgendeiner Form zu Schaden kommen!“.

Mag sein, das ist alles nun etwas kompliziert und lästig. Aber Worte formen Gedanken und Gedanken und Worte formen Handlungen. Deshalb schadet es mitunter nicht, darüber nachzudenken, was man eigentlich so für selbstverständliche Redewendungen benutzt. Zu überlegen, was da vielleicht tatsächlich hinter steckt. In dem Moment, wo ich „der gesunde Menschenverstand“ sage, weil ich etwas vielleicht besser weiß aber keine Lust habe, auf etwaige Gefahren hinzuweisen, habe ich nicht im Blick, dass es auch mich treffen kann.

Das es mir irgendwann genau so gehen kann, dass ich selbst auf etwas reinfalle, etwas als völlig normal und selbstverständlich empfinde wo mir ein paar andere Leute „aber der gesunde Menschenverstand sagt doch...!!!!!“ erklären würden.

Es gibt viele Dinge, die sind schlichtweg sehr genau definiert und geregelt. Wer „Gesunder Menschenverstand“ googelt, findet einen langen Artikel über die Geschichte dessen und in diesem Artikel werden viele Philosophen genannt: Aristoteles, Cicero, Kant und so weiter und je nachdem, was so „in“ war, hat sich sich dabei immer auch ein bisschen etwas gewandelt. Kein Ding.

Aber wenn man im Kern bei der Aussage bleiben würde, dass „der gesunde Menschenverstand“ eben die Dinge und das Wissen umfasst, die sich über Jahrhunderte als Werte und Richtlinien herausgebildet haben – dann reicht doch ein Blick in die Medien um zu verstehen, dass so etwas mittlerweile völliger Kappes ist, Nonsens. Da werden Kinder im Krieg erschossen und zu Silvester mit Böllern beworfen, da werden schwerkranke Menschen nicht vor ansteckenden Krankheiten geschützt, sondern hochinfektiöses Personal geht arbeiten und nimmt billigend den Tod von solchen Menschen in Kauf. Gesunder Menschenverstand würde Kriegsverbrechen verhindern und viele Dinge weit mehr hinterfragen, es gäbe keine Raucher, Alkoholiker und Junkies.




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Vielen Dank für den Kommentar. Er wird nicht sofort zu sehen sein, weil ich erst noch schauen möchte, ob es tatsächlich ein Kommentar ist oder ob es Werbung aus Nigeria und Co ist.