Donnerstag, 13. März 2014

Großer Bahnhof...

Wenn hier Leute aus Neuruppin lesen, dann haben die schon vom Mittendrin gehört. Unserem Jugendwohnprojekt, das nicht so ganz unumstritten ist. Aber meistens deshalb, weil die Leute, die das Mittendrin doof finden, eher auf Stammtischparolen stehen als darauf, sich selbst ein Bild zu machen und die Leute mal kennen zu lernen. 

Die sind nämlich ganz nett. Hundekumpel Oscar gehört auch zum Mittendrin und so ein kleiner bunter Zwerg ist auch oft zu Besuch dort. Der neue Sozialpädagoge dort, Stefan, hat auch einen Hund, Carlos. 

Warum erzählen wir euch das? Weil das Mittendrin gerade sehr fleissig dabei ist, den alten Bahnhof zu sanieren. Das "diese Alternativen" den gekauft haben, finden manche Leute zwar ziemlich blöde, aber es ist besser, als wenn der verrottet - oder? Und ist ja schön, das alle Leute ein buntes Neuruppin haben wollen und gegen Rechts sind - aber das bunt sollte sich doch nicht nur auf die Häuserfarben beziehen, sondern auch auf eine Vielfalt an Meinungen etc. - und jaaa, viele laufen in schwarzen Klamotten rum, aber das finden wir immer noch besser als eine kackbraune Gesinnung.

Also, das Arbeitsteam vom Mittendrin erwartet ab Ende April ungefähr 50 Wandergesellen (genau, so etwas gibt es nämlich noch in Deutschland!), die ihnen bei der Hauptsanierung helfen werden. Dachdeckergesellen, Tischlergesellen, Maurer. Dafür wird noch jede Menge Werkzeug und Material benötigt - und die Liste (sowie jede Menge andere Informationen über das Mittendrin und zum Bahnhofskauf) findet ihr 
hier: MITTENDRIN

Übrigens hier noch eine kleine Geschichte vom Januar 2013... danach könnt ihr immer noch das Mittendrin doof finden, wenn ihr es bislang getan habt, oder mal überlegen, wie es wäre, wenn es EURE TOCHTER gewesen wäre... 


Irgendwann im Januar 2013, die Uhr zeigt 23:30 Uhr, Farino will unbedingt noch mal raus, pinkeln. Also dick anziehen, denn draussen friert es. Vor dem Haus biegen wir in Richtung Rosengarten ab, der Atem produziert kleine Wolken, die Hände frieren, Farino freut sich, das er noch mal pinkeln kann, die Luft klar ist und alles recht frisch riecht. Auf der Rückenlehe einer Bank sitzt eine junge Frau. 

Nachts um fast 24 Uhr. Warum auch nicht. Wir drehen unsere Runde, ich will schon fast wieder gen Haustüre laufen, da fällt mir ein, wie beschissen ich es fand, als es mir unglaublich dreckig ging und keiner wenigstens mal gefragt hat, wenn ich stundenlang irgendwo gesessen habe. Wie es war, als ich nachts auf dem Gehweg zusammengeklappt bin - und die Leute achtlos vorbei gefahren sind. Manchmal ist es gut, sich an solche Situationen zu erinnern - und daran, das man ja nie so sein wollte. Also hin... "Alles in Ordnung???" 

Die junge Frau entpuppt sich als junges Mädchen. "Ja, ich bin aus dem Heim abgehauen... und jetzt sucht die Bullerei mich!" ein sehnsüchtiger Blick auf den Hund... "den kannste streicheln, kein Ding!". Kurz erzählt das Mädchen, das sie nicht weiß, wo sie bleiben soll und kein Bock "auf Stress mit den Bullen" hat. Kann ich verstehen. Sehr gut sogar. "Komm erst mal mit zu uns, aufwärmen. Ich mach uns einen Tee und dann können wir weitergucken!" Das Mädel ist sichtlich erleichtert und keine 10 Minuten später sitzen wir bei einem heissen Tee und erzählen uns voneinander. Farino weicht ihr nicht von der Seite, sie erzählt von ihren Tieren, irgendwo zu Hause, von ihrem brutalen Vater, von dem Heim, aus dem sie abgehauen ist. Ich erzähle von mir und von meinen Kindern, insbesondere von meiner Tochter, die längere Zeit Borderlinerin war. Für Eltern ist das genau so eine Grenzerfahrung wie für die Jugendlichen selbst. Manche packen es, bekommen die Kurve und werden irgendwann Erwachsene mit ein bisschen mehr Lebenserfahrung - und manche packen es nicht und werden gar nicht erst erwachsen, weil irgendwann das ganze Leben viel zu kompliziert ist und es einfacher zu sein scheint, es wegzuwerfen. Dann hat man es wenigstens hinter sich. 

Als ich vom Ritzen erzähle, schiebt das Mädel ihren blutverschmierten Ärmel hoch. Mir wird kurzfristig übel. "Ist bis auf die Sehne runter und mein Alter, das Schwein, hat noch volle Elle draufgehauen!". Ich hole Verbandszeug und Desinfektionsmittel, damit zumindest ein Schutz drüber ist. Wir unterhalten uns sehr lange, sie erzählt viel, sicherlich ist manches auch übertrieben - aber in dem Alter ist es eben so, da empfindet man es so. Sie fühlt sich machtlos gegenüber dem Vater und den Leuten aus dem Heim, will einfach nur weiter weg. Aber das ist Nachts in Neuruppin nicht machbar und als Mädel schon mal gar nicht. Wo also bleiben? Bei uns geht aufgrund unserer eigenen problematischen Situation nicht, ihr Vertrauen bedeutet mir sehr viel, würde ich es verraten, wäre ich vielleicht die Letzte, die sie lebend gesehen hätte. Also keine Polizei - ich schlage ihr das Mittendrin vor. 

Mittlerweile ist es nachts, ein Uhr. Keine Ahnung, ob da überhaupt jemand aufmacht und sie einen Schlafplatz bekommt. Sie ist skeptisch und ängstlich - wir schauen uns die Internetseite an und ich verspreche ihr hoch und heilig, das dort niemand die Polizei ruft wenn sie vor der Türe steht, das die Leute cool drauf sind, es dort einen Sozialarbeiter gibt, der ihr zuhört und sicherlich ein paar Ideen hat. Sie bekommt noch wärmere Klamotten über und dann machen wir uns auf den Weg. Wir haben tatsächlich jemanden aus dem Bett geklingelt - und sie hat einen Schlafplatz bekommen. Ohne große Diskussion, ohne Blaulicht, einfach so.

Wenn ihr das nächste Mal in der Zeitung irgendwelche Schlagzeilen über verschwundene, vergewaltigte und/oder ermordete Kinder und Jugendliche lest... seid doch einfach mal froh, das es so etwas wie das Mittendrin gibt. Denn ausgerissen, psychisch labil, durchgefrohren und auf der Flucht vor der Polizei wäre das Mädel durchaus auch ein perfektes Opfer für irgendeinen Sausack gewesen, der auf kleine Mädchen steht. "Sei lieb...", "Du könntest dich ja mal bedanken..." oder "Stell dich nicht so an... was denkst du eigentlich, wer du bist?!" oder gar " Ist doch gar nicht so schlimm!" sind Sätze, die manche Kerle völlig harmlos finden - das, was sie dann tun, ebenfalls. Nur das solche Sätze manchmal mit das Letzte sind, was ein Mädchen hört. Weil sie sich in Endlosschleife einfressen. Bis zum letzten Pulsschlag.

Sie war übrigens 14. Und wenn ihr Kinder habt, denkt einfach mal daran, das die so völlig anders werden können, als ihr euch das vorstellt. Aber sie werden euch trotzdem etwas bedeuten, ihr werdet euch trotzdem Sorgen um sie machen... und froh sein, wenn ihnen nichts passiert, selbst dann, wenn sie in euren Augen "Scheiße bauen".


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Vielen Dank für den Kommentar. Er wird nicht sofort zu sehen sein, weil ich erst noch schauen möchte, ob es tatsächlich ein Kommentar ist oder ob es Werbung aus Nigeria und Co ist.