Dienstag, 4. Mai 2021

Von Sprache & Handeln

In einem Wohnheim für Behinderte sind vier Bewohner ermordet worden. Viele Menschen mit Behinderung regen sich in den sozialen Medien darüber auf, wie darüber berichtet und gesprochen wird. Auch viele Angehörige von Behinderten oder Menschen, die mit Behinderten arbeiten melden sich kritisch zu Wort. Es werden vor allem drei Dinge angeprangert:

  1. Es wird zu wenig darüber berichtet

  2. Wenn darüber berichtet wird, geht es vor allem um die Täterin. Nicht um die Ermordeten.

  3. Wenn es um die Ermordeten geht, dann wird die Tat verharmlost und es wird auf eine

    Sprache oder auf Ansichten zurückgegriffen, die auch in der NS-Zeit benutzt wurde und

    die damals die Ermordung von Behinderten als „gute für die Gesellschaft“ darstellte.

Sicherlich dauert es im Normalfall einige Jahrzehnte, bis sich in den Köpfen der meisten Menschen Dinge ändern. Bis sich Denkmuster und damit oft verbundene Redewendungen ändern. Wenn so etwas viele Menschen betrifft, geht das eigentlich relativ schnell. So sagt kaum noch jemand „Fräulein“ als Anrede. Der Begriff „Fräulein“ wurde 1971 per Erlass abgeschafft. Zwar wurde ich noch in der Schule und Ausbildung in den 80ern so angesprochen – aber mittlerweile wird er nicht mehr benutzt.

Auch solche Sachen wie „der/die braucht nur mal eine Tracht Prügel“, was früher wirklich oft zu hören war, gibt es nur noch selten zu hören. Wenn man es hört, weiß man gleich, an was für einen Menschen man geraten ist. Seit 2000 haben Kinder das Anrecht auf eine gewaltfreie Erziehung. Das „Züchtigungsrecht des Ehemannes“ wurde schon 1928 abgeschafft, die Vergewaltigung in der Ehe war bis 1992 straffrei. Danach wurde sie nur verfolgt, wenn die Frau ihren Mann dafür angezeigt hat. So etwas nennt man „Antragsdelikt“. Erst ab 2004 ist es ein „Offizialsdelikt“ und wird selbstständig vom Amts wegen verfolgt und geahndet.

Alles das hat sich mittlerweile in unserem Denken geändert. Damit hat sich auch der Sprachgebrauch geändert. Weil so ziemlich jeder mittlerweile weiß, das Gewalt keine Lösung ist und derjenige, der schlägt oder vergewaltigt, vor Gericht landen kann. Wenn sich das Denken und der Sprachgebrauch ändern, dann ändert sich auch das Handeln. Denken und Sprachgebrauch können sich aber erst dann in einem wirklich großen Umfang ändern, wenn immer und immer wieder über etwas gesprochen wird und viele Menschen es vorleben.

Natürlich wird auch viel über Behinderte gesprochen. Es gab auch in den letzten Jahrzehnten schon viele Verbesserungen. Aber es gibt mindestens ebenso viele Dinge, die behinderte Menschen und ihre Zugehörigen betreffen, die sich noch nicht geändert haben. Im März 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben und sich damit verpflichtet, sie umzusetzen. Das ist 12 Jahre her. Nach wie vor wird ein großer Teil der Umsetzung einfach verschlurt und die Mahnungen der UN werden ignoriert. Hauptsache, man kann sagen: „Wir haben die aber unterschrieben!“. Eine UN-Konvention unterschrieben zu haben, macht viel Eindruck – was sie beinhaltet, interessiert allerdings nur die wenigsten Menschen. Das ist letztlich eine geschickte Taktik um Menschen zu täuschen.

Wäre es eine UN-Autofahrerkonvention – sie wäre binnen weniger Jahre umgesetzt worden und Millionen von Fußballexperten, die gerade zu Virologen und Impfexperten umgesattelt haben wären dann tatsächlich sehr fit im Thema „UN-Autofahrerkonvention“ und würden der Politik den Hintern heiß machen, damit bloß ihre Rechte gewahrt werden. Dafür würde auch die Automobilindustrie sorgen. Zumindest in den Bereichen, wo sie sich nicht selbst das Wasser abgräbt.

Aber was hat das jetzt mit den ermordeten Menschen aus dem Behindertenwohnheim zu tun? Sehr viel! Denn nach wie vor haben behinderte Menschen keine Lobby.

Also werden sie übergangen. Es wurde weit mehr über die Täterin berichtet als über die Opfer. Dabei wurde immer wieder herausgestellt, dass Menschen, die sich um Behinderte kümmern „viel leisten“. Solche Menschen sind „Helden“, „Heroen“, „Barmherzig“, „Berufen“ und es fallen Wörter wie „Mitleid“ und „Überforderung“ oder „Aufopferung“. Aber auch so Dinge wie „Erlösung“, „schweres Leid“, „traurig“ oder „im Himmel seid ihr frei“ kommen vor. Schlimm auch „meine Kinder“ wenn Pflegekräfte von erwachsenen Behinderten sprechen, um die sie sich in Wohneinrichtungen kümmern oder dass es auch hieß „in einem Krankenhaus wurden vier Behinderte ermordet“.

Wenn ich mir Berichte von Tierschützern durchlese, die Streunerhunde oder so aufsammeln und Tierheime haben, dann bekomme ich eigentlich die gleichen Begriffe in ähnlicher Konstellation genannt.

Viel Schlimmer: 1940 wurde die Aktion T4 beschlossen. Das hat nun nichts mit dem VW-Bus zu tun, sondern mit der gezielten Ermordung tausender Behinderter im 3. Reich. Weil man befand, sie wären „unwertes Leben“ und würden der Gesellschaft nur unnötig zur Last fallen und unnötig Geld kosten. Es wurde die Einstellung zementiert, dass Behinderte „traurig“ wären, ein „schweres Leid“ hätten, „unglücklich wären“ weil sie doch behindert sind und es einfach nur eine Qual für diese Menschen wäre, am Leben zu bleiben. Natürlich ging es auch um sehr viel Geld. Denn es wurde genau ausgerechnet, was so ein behinderter Mensch in seinem Leben monetär leisten kann da gegenüber gestellt, was er dem Staat kostet und wie viele Familien mit gesunden Kindern man von dem Geld unterstützen könnte. 



1940 ist nun über 80 Jahre her. Aber dennoch hat sich in den Köpfen vieler GESUNDER Menschen seit Jahrzehnten nach wie vor einiges von der Denkweise und der Argumentation aus dem 3. Reich eingenistet und wird völlig selbstverständlich benutzt – und an den Wörtern und Redewendungen, die nach wie vor einfach ohne viel nachzudenken benutzt werden, sieht man letztlich auch sehr gut, welche Stellenwert Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft tatsächlich haben.

Es ist jetzt nicht nur die Ermordung dieser vier Menschen aus dem Oberlinhaus, die es zeigt. So ziemlich jeder Mensch mit Behinderung bekommt es mit. Je fitter er im Kopf und je selbstbestimmter er leben kann, desto mehr. Die Eltern von behinderten Kindern bekommen es mit und mitunter gibt es innerfamiliäre Dramen, wenn einige Leute der Familie mit Ansichten aus dem 3. Reich aufwarten. Oder vermeintliche „Freunde“.

Als Nick nach dem ersten Hirntumor im Wachstum stehen geblieben ist, erklärte mir sein damaliger Arzt „der braucht Wachstumshormone, der bleibt zu klein. Kleinwüchsige Menschen haben keine Lebensqualität!“. Für einen Menschen von etwa 1,85 Meter Körpergröße und vor allem für einen Arzt ist das schon eine ziemlich harte Aussage! Ich meine, da hat man sein Kind, dass just einen Hirntumor überlebt hat, eigentlich noch auf der Kippe steht und dann kommt da so ein Arzt an und behandelt einen als ob das Kind nur ein Versuchskarnickel wäre und keinen Wert hätte. Weil es SEINEN Ansprüchen an einen Menschen nicht genügt. Der Kerl hatte nach der Aktion bei mir den Spitznamen „Doktor Mengele“ weg und ich habe oft überlegt, ob der echte Doktor Mengele einer seiner Vorfahren war.

Ich habe damals dann in einem Forum für Kleinwüchsige Hilfe gesucht. Ein ganz wunderbarer Mensch mit niedrigerer Körperhöhe hat ungefähr eine halbe Stunde lang recherchiert um meine Telefonnummer herauszufinden und wir haben uns wirklich sehr lange unterhalten. Er hat mir dann von seinen Erfahrungen, auch als Familienvater, erzählt. Das, was Ärzte ihm und seiner ebenfalls kleinwüchsigen Frau geraten und vor den Kopf geknallt haben. Auch das hatte sehr viel mit der Einstellung gegenüber Behinderten im 3. Reich zu tun.

Ich mache den Zirkus bislang „nur“ rund 19 Jahre als Mutter mit. Andere Eltern und Behinderte schon viel, viel länger. Von fast jedem hört man irgendwann „da hat sich nicht wirklich viel geändert!“. Auch Eltern von behinderten Kindern, die noch relativ jung sind, bekommen die tatsächliche Einstellung der Gesellschaft gegenüber Behinderten mit voller Wucht zu spüren. Das macht Angst. Es sollte eigentlich jedem Angst machen. Unbehindert zu sein, ist nichts, was einem ein ganzes Leben lang automatisch zusteht. Es genügt ein Bruchteil einer Sekunde, das zu ändern! Es kann auch die Folge einer Erkrankung sein.

Gerade Covid-19 hat für viele Menschen, die es bekommen und überleben, lebenslange Einschränkungen als Folge. Auf Twitter erzählt „Emergency Doc“ immer wieder von Fällen, wo Menschen selbst nach einem milden Verlauf schwere Organschäden oder Schlaganfälle bekommen haben. Die sind dann lebenslang behindert. Das sind nicht nur Einzelfälle, das sind sehr, sehr viele Menschen! Es ist auch nicht nur Emergency Doc, der davon erzählt, es gibt noch andere Ärzte und Pflegekräfte, Physiotherapeuten etc. die immer wieder von Fällen berichten, wo Covid zwar irgendwie überstanden wurde, die Menschen als „genesen“ gelten, aber für den Rest ihres Lebens mit irreversibel kaputten Organen leben müssen. Egal ob Lunge, Leber, Niere oder Hirn. 

Allein die Tatsache, dass manche Leute sagen: "Ach, dieser Mensch hatte schon eine VORerkrankung" und damit Menschen abwerten und ihren Tod quasi völlig in Ordnung finden ist ziemlich gruselig. Diese Menschen könnten ihre Eltern oder Großeltern sein, die besten Freunde, Kinder, Arbeitskollegen oder was und wer auch immer.  "Ach, der hatte eine Vorerkrankung" bedeutet ja auch: Bluthochdruck, Herzprobleme, Diabetes, Übergewicht, transplantiert sein, Demenz, Parkinson, Epilepsie, Asthma, Migräne, Krebserkrankung, Raucherlunge, Alkoholprobleme und viele, viele Dinge mehr! Sich da selbstgefällig hinzustellen und zu erklären, dass solche Menschen ja eh weniger Wert sind ist an Gefühlslosigkeit kaum noch zu überbieten!

Wer sorglos damit umgeht, Behinderte als „schwer leidend“ zu bezeichnen, denkt, dass Behinderte „erlöst“ werden, wenn sie sterben (oder brutal ermordet werden), „keine Lebensqualität haben“, wer der Auffassung ist „Behinderte sind immer so dankbar“ und „wie Kinder“, wer denkt es ist „Aufopferung“ sich um solche Menschen zu kümmern, das man dazu „berufen sein muss“ und diesen ganzen Krempel, der sollte sich spätestens jetzt dann mal Gedanken darüber machen, ob seine Denkweise und seine Ansichten wirklich noch zeitgemäß sind.

Denn jetzt ist es ja nicht nur ein Autounfall, vom Pferd zu fliegen, beim Skifahren auf einen Stein zu krachen oder bei Baden zu ertrinken was so klassisch als „wenn mir das passiert, kann ich für den Rest des Lebens behindert sein" das als Schreckensszenario über den „Gesunden“ schwebt. Es ist ein mieses kleines unsichtbares Virus, das ganz ohne viel sportliche Action oder Unfalldrama dafür sorgen kann, dass man plötzlich zu den Menschen gehört, die man immer irgendwie abgewertet hat. Wo man vielleicht insgeheim dachte: „Sozialschmarotzer! Die leisten ja nichts! Braucht kein Mensch, so etwas!“. Die Folgekosten der Pandemie für solche Menschen werden exorbitant sein. Und ein Ende von Corona ist noch gar nicht abzusehen!

Zusammen mit den Senioren, die zunehmend mit Einschränkungen durch Herzproblemen, Demenz, Diabetes, Parkinson oder Brüchen und so weiter zu tun haben, steuern wir gerade auf eine Gesellschaft zu, die in wenigen Jahren aus sehr, sehr vielen Menschen mit körperlichen und gesundheitlichen Einschränkungen bestehen wird. Binnen weniger Jahre werden tausende Menschen dazu kommen, wo es vorher vielleicht ein paar hundert gewesen wären – in einem System, das schon seit Jahren am Limit läuft.

Spätestens DAS sollte auch dem letzten Bürger langsam Angst machen. Heute habe ich irgendwo gelesen „wir sind hier nicht in Indien, wir sind in Deutschland!“. Tja, das mag ja sein. Aber wenn viele nach-Covid-Patienten aufgrund ihrer Lungenschäden dauerhaft unterstützend Sauerstoff benötigen, dann leben wir zwar in Deutschland, haben aber irgendwann das Problem, dass bei weitem nicht genügend ausgebildetes Personal gibt, das den enormen Anstieg von Menschen mit Sauerstoffversorgung wuppen kann. Es mag ja sein, dass man da viele Sachen auch selbst lernen kann. Aber sobald eine unvorhergesehene Situation kommt, ein Ventil kaputt geht, die Flasche plötzlich leer ist, etwas verstopft oder was auch immer, werden wir auch in Deutschland Menschen haben, die elendig zu Hause oder auf der Straße ersticken. Weil niemand schnell erreichbar ist, der es beheben könnte.

Aber ich bin sicher, dass dann die tausenden Fussballexperten, die in einem Blödzeitungsstudium binnen weniger Wochen zu Virologen und Impfstoffexperten umgeschult haben sich dann erheben, auf ihren Weber-Gasgrill weisen und sagen: Flasche ist Flasche, Sauerstoff kann ja nicht viel anders sein als Flüssiggas und es selbst regeln. Weil, sie sind ja schließlich Experten! 












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Vielen Dank für den Kommentar. Er wird nicht sofort zu sehen sein, weil ich erst noch schauen möchte, ob es tatsächlich ein Kommentar ist oder ob es Werbung aus Nigeria und Co ist.