Freitag, 8. Januar 2016

Die "Keine Zeit"-Gesellschaft

Vorhin wollte ich einfach nur die abendliche Hunderunde machen. Angezogen, Hund geschnappt, aus dem Haus.

Man ist das glatt! Zum Schulplatz rübergeschlittert, Joey hat sich die Bäume angeschaut. Ich sehe noch aus den Augenwinkeln, wie ein Mann ein Fahrrad schiebt, drehe mich wieder zu Joey. Es kracht. Ich drehe mich um - der Mann liegt über seinem Rad auf dem Boden... und rührt sich nicht. Also hin da ohne selbst hinzufallen. Gut, er rührt sich wieder, hockt etwas verwirrt auf dem Boden und reibt sich die Nase.

Zeitgleich hält ein dick vermummelter Radfahrer und steigt ab. Ebenso hält ein Auto an, die Tür geht ein Stück auf... und gleich wieder zu, nachdem wir uns um den Mann kümmern. Das heißt ich helfe ihm hoch, er ist ziemlich angetrunken und fragt erst einmal ständig, wo wir denn plötzlich herkommen. Ein paar Worte werden gewechselt, ich frage, wo er hin muss - und er erklärt, in ein Dorf auf der anderen Seeseite. 10 Kilometer.

Nicht in dem Zustand. Der Radfahrer ruft die Polizei an, damit die sich um ihn kümmert, ignoriert den Protest des Betrunkenen und fragt dann, ob ich mich weiter kümmern kann, er hätte keine Zeit. Natürlich kann ich. Ich nehme mir einfach die Zeit, denn ich möchte nicht im Entferntesten dafür verantwortlich sein, das man morgen einen erfrorenen Menschen irgendwo aus einer dunklen Ecke zieht. Ganz einfach. Der Radfahrer bedankt sich und fährt weiter.

Joey und ich sehen zu, den doch recht hilflosen Menschen auf eine Bank zu verfrachten. Der weiß immer noch nicht so richtig, was passiert ist. Den Radfahrer nennt er ab jetzt "der Froschmann" und es wird zeitweilig sehr skurril, was ich mit viel Humor nehme. "Du lachst mich aus!" - nein, erkläre ich, ich lache ihn nicht aus, aber ich lache über einige Sachen. Das Leben, so erkläre ich ihm weiter, wäre doch schon oft so beschissen, das man es am Besten mit Humor nimmt. Das hat er dann doch irgendwie verstanden.

Was hätte ich denn auch machen sollen? Ihm eine Standpauke halten? Ne. Oder würdet Ihr es toll finden, wenn man euch hilflos findet, dann zu hören, das man zu viel gesoffen hat, einem anderen vielleicht jetzt gerade den Abend versaut oder was auch immer? Doch eher nicht - oder?

"Was bekommst du dafür, das du die Nachtschicht hier mit mir verbringst?" werde ich gefragt und "Der Froschmann hat dich doch hier für die Nachtschicht eingeteilt!". Ich lache und erkläre, das ich dafür nicht bezahlt werde. Aber ich hätte ein gutes Gefühl, weil ich wüsste, man würde ihn nicht erfroren am nächsten Tag irgendwo auffinden. "Quatsch nicht, du kannst mir nicht erzählen, das du es nur für das gute Gefühl machst!" "Doch, mache ich. Solche Menschen gibt es tatsächlich! Nicht viele, aber es gibt sie. Manchmal hat man Glück und findet so einen!". Ich grinse ihn an. Das hat ihn irgendwie beeindruckt. "Du bist... WESSI!!!" ja. "Du bist ein echt netter Wessi!". Ich gebe mir Mühe.

Zwischendurch wird Joey geknuddelt - und Joey schlecht ihm das Gesicht ab. "Siehst du..." sagt mein Gegenüber mit strahlender Miene - "Hunde lügen nie!". Zwei Sekunden später kommt Joey zu mir und schleckt sich über das Maul. Bei Joey heißt das: "Siehst du, das habe ich doch jetzt gut gemacht, belohne mich dafür!". Das ist ok, denn das hat er von Farino gelernt. Wir müssen eine ziemlich lange Zeit warten, bis die Polizei auftaucht und verbringen sie mit ernsten Sätzen, lustigen Sätzen, Lachen - und ab und an haut er lautstark jemanden an, ob er ein Wasser bekommen könnte.

Letztes Jahr im Januar ist Joey bei Eis und Schnee abgehauen - und nachdem ich die Suche nach Joey ob der schweineglatten Straßen und der Dunkelheit abgebrochen habe und auf dem Rückweg nach Hause war, kamen mir etwa bei Theos Steakhaus zwei Leute entgegen: "Da vorne liegt jemand!". Ein Betrunkener hatte sich den Parkstreifen dich am Bordstein ausgesucht um dort zu schlafen, wusste auch nicht, wie er dort überhaupt hingekommen ist... und ich habe mir die Zeit genommen, mich um ihn zu kümmern.

Die Polizei angerufen, die einen Rettungswagen geschickt hat, bin geblieben bis der Rettungswagen gekommen ist. Habe mich mit ihm unterhalten... andere sind vorbei gekommen, waren eher hilflos nach dem Motto: "Hilfe, ein Penner, was soll ich denn jetzt..." und sind wieder gegangen. Weiter oder wieder hinein um weiter zu essen.

Die ältere Dame vor ein paar Wochen im WK 3 war letztlich auch so ein Fall. Ja, der Busfahrer, der sich um sie gekümmert hat, wäre im Notfall sicherlich auch noch länger geblieben. Aber der Bus war voll und er sichtlich erleichtert, als ich gesagt habe: "Kein Problem, ich bleibe hier!" - aber Nummer zwei, der einen Rettungswagen angerufen hat, hatte dann auch keine Zeit. Ja, ich lasse die Leute dann gehen. Sie haben die Zeit nicht, die ich mir nehme.

Aber heute habe ich dann überlegt, wenn mir andere Menschen immer mal wieder erzählen, wie kalt, herzlos und unsozial diese Gesellschaft doch geworden ist (was zum Glück nicht immer stimmt) - würden sie tatsächlich bleiben wenn sie so eine hilflose Person sehen und sich das Warten auf professionelle Hilfe teilen - oder hätten sie dann auch "keine Zeit"? Und würden sie ihre Einstellung ändern, wenn sie am eigenen Leib und sogar ohne betrunken zu sein erleben, wie es ist, an einer Straße zusammenzuklappen und die Autos mitzählen können, die in den 20 Minuten an ihnen vorbeifahren, bis sie aus eigener Kraft wieder hochkommen?

Die moderne Technik reicht aus, um Polizei oder Rettungsdienst zu rufen. Dazu, jemandem zu sagen: "Tut mir leid, hier ist gerade ein Notfall, eine hilflose Person und ich muss eben auf den Rettungsdienst warten, damit ihr nichts passiert!" - dafür reicht die Zeit leider nicht. Oder der Willen nicht. Keine Ahnung.

Was ich von der Zeit heute Abend hatte? Das gute Gefühl, zu wissen, der Mensch erfriert nicht irgendwo diese Nacht. Ich habe einen netten Betrunkenen erlebt, von dem sich viele Nüchterne eine Scheibe abschneiden könnten, viele - sicherlich mitunter ungewöhnliche - Komplimente bekommen, ich habe heute Abend viel gelacht - und gelernt.

Das beste Gesicht des Abends hatte aber dann einer der Polizisten. Sein Kollege hat den Mann nach dem Namen gefragt. Der ist aber als Verschwörungstheoretiker der leichteren Sorte vorsichtig gewesen, schaute sich um, blickte auf das Werbeschild vom Drogeriemarkt gegenüber, stellte sich gerade hin und sagte: "Ich bin Herr Rossmann!". Ich habe mich zu ihm hingedreht und gesagt: "Du kannst deinen Aluhut wieder absetzen!" - ja und dann gab es da so ein unbezahlbar überrascht grinsendes Gesicht vom Freund und Helfer. Die kleinen Freuden des Alltags.

Damit melden wir uns aus der Ruppi-Struppi-Blogpause zurück!




 

3 Kommentare:

  1. Wenn jemand Hilfe braucht, dann helf ich auch. Klar hat man nicht immer Zeit, aber ein Notfall ist nun mal ein Notfall. Heutzutage kann man ja jeden mal schnell anrufen, dass es doch länger dauert wie geplant...

    LG Andrea und Linda

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  2. Ich habe ja die ganze Zeit überlegt, ob ich nächstes Jahr im Januar dann auch wieder jemanden bei Minusgraden aufsammle, dann hätte ich eine ganze Reihe. Bis mir eingefallen ist - ich habe schon eine Reihe, denn ich habe schon 2013 bei Minusgraden ein ausgerissenes Mädel nachts im Park aufgesammelt, das nicht wusste, wohin.

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  3. Nun, ich helfe eigentlich auch, erst im Herbst als ein Mann vom Rad stürtzte, weil er über die ferngesteuerten Autos der spielenden Kinder fiel. Zuschauer hatten wir genug, geholfen hat keiner. Doch gebe ich auch zu, dass ich mit alkoholisierten Menschen ein Problem. Das sind wir mich selbst gemachte Notsituationen, aber natürlich lässt man ihn nicht liegen....

    Viele liebe Grüße
    Sabine mit Socke

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Vielen Dank für den Kommentar. Er wird nicht sofort zu sehen sein, weil ich erst noch schauen möchte, ob es tatsächlich ein Kommentar ist oder ob es Werbung aus Nigeria und Co ist.